Deutsches Theater Almaty

 

30. August 1999, Aargauer Zeitung, Basel
31. Juli 1999, Argus, Basel
August 1999, Festival-Zeitung, Basel
30. August 1999, BZ, Basel


 


 

30. August 1999, Aargauer Zeitung, Basel
 
Das Leben besiegt den Tod - definitiv.
 
Basel. Das Deutsche Theater Almaty aus Kasachstan packt mit "Glücksfelder"
Elisabeth Feller

 

Bei Franz Schubert wissen wir, daß (s)ein Mädchen gegen den Tod keine Chance hat. Bei Ingrid Lausund sind wir schlicht froh, daß sieben Mädchen dem Tod von der Schippe springen und - wie im Lotto - auf einem jener Glücksfelder landen, die eine, wenngleich wechselhaft gefärbte, Zukunft verheißen. Das stimmt tröstlich und läßt die Zuschauer frohgemut in die Nacht heraustreten. Dergestalt, daß draußen eine picknickende Frau fragt, was "denn da gelaufen" sei - sie sähe lauter glückliche Gesichter.
 
Für diese sorgte eine kleine, aber feine Produktion aus dem rund 6000 Kilometer entfernten Almaty, Hauptstadt von Kasachstan. Weil es dort eine deutsche Minderheit gibt, wird für sie eben deutsches Theater gespielt - übrigens mit einem charmanten, rollende R's zuhauf verströmenden Akzent.
 
Wie aber will ein "armes" Theater wie dieses den saturierten Westen packen? Ganz einfach: Mittels einer Aufführung, die sich dicht an der - selbst nach Glasnost - noch immer tristen Wirklichkeit entlang bewegt. Eine postsozialistische, authentische Realität, die geprägt ist von vielem: mangelnder Liebe, horriblen Zuständen in den Spitälern, Korruption, Träumen, im Keim erstickten Plänen, Lethargie, Resignation, aber auch von einem , allen Fährnissen des Lebens trotzenden Willen, den epidemischen Virus des "allein kann man doch nichts machen" mit Galgenhumor zu besiegen.
 
Wie, zeigt das auf sieben Schauspielerinnen und einen Schauspieler - alles Absolventen der deutschen Schauspielakademie Almaty - zugeschnittene Stück der deutschen Autorin und Regisseurin Ingrid Lausund. "Gestrickt" ist es nach einfachen Muster: Dar Tod - ein charmanter Kerl in Uniform und Rüschen Rock - führt die Regie in einer Inszenierung mit einem, wie er glaubt, logischen, da tödlichen Ausgang. Wie Puppen läßt er sieben, dafür ausgewählte Frauen tanzen: die Tänzerin, die Russlanddeutsche, die Flatternde, die Trinkerin, die Rotarmistin, die Dollarbraut, aber auch die duldsame russische Seele. Stellvertretend für das triste, blitzlichtartige Erhelle stehen sieben Regenschirme ohne schützendes Dach: Symbol für das Kaputte, mit dem sich mit etwas Phantasie gleichwohl ziemlich viel anstellen läßt.
 
Je nach Situation werden diese Schirmfragmente nämlich heftig bewegt oder sie dienen als Koordinaten für Monologe und Dialoge, die ausschließlich um eins kreisen: den Alltag in Kasachstan. Und immerzu greift der Tod, auf der Suche nach der imaginären Frau Rogoloff, ein; verändert hier und dort etwas, schnippt mit den Fingern - Musik erklingt! Und schon gehorchen ihm die Puppen. Dergestalt, daß aus den einzelnen wahre Sturzfluten hervorbrechen. Tragisch ist alles, was da erzählt wird, aber zugleich auch entsetzlich komisch. Wie die "Fallstudie" jener Tänzerin, deren Arme und Beine amputiert und durch neue, aus verschiedenen Ländern ersetzt worden sind. Zynischer Höhepunkt: Der Kopf stammt aus Rußland. Was sich dieses Haupt dann so alles ausdenkt im Nichtfunktionieren, gehört bei aller Bitterkeit und Ironie, zum umwerfend Komischen dieser Aufführung. Solcherart sind die einzelnen "Nummern" durchsetzt, was "Glücksfelder", das Stück im leichtgeschürtzten Gewand einer Revue, ebenso bestechend wie berührend macht. Nur logisch also, daß die anfängliche Tragödie zur Komödie mutiert, die nicht nach den Tod, sondern nach dem Leben giert. Für den süffisant-zynischen Tod eine Katastrophe, die ihn, den brillianten Improvisator und Moderator, schachmatt setzt. Beinah kampflos läßt er sich am Ende sein Rollenbuch von den nunmehr sechs Frauen - eine hat Selbstmord begangen: "Tabletten sind in Almaty gar nicht so leicht aufzutreiben!" - entwinden. Resigniert stiehlt er sich aus der Szene davon, da ihm zu Gewißheit wird: Trotz aller Schicksalsschläge ist der Tod nicht erwünscht. Und siehe da: Am Ende erweisen sich die von ihm gegängelten Seelen als lebensfähig. Eifrig knien die Frauen am Boden, regen an und verwerfen, bis eine von ihnen den Stift ergreift und aufschreibt, was sie von nun an Spielen wollen: ein neues Stück - ohne Tod.
 
Schön ist das. Und das um so mehr, weil Regisseurin und Ensemble nicht auf die Tränendrüsen drücken, sondern ihr Stück wunderbar in der Schwebe halten zwischen Tragik und Komik. Das nimmt diesem Abend alle (be)lastende Schwere, was das Publikum erst recht zur konzentrierten Anteilnahme animiert. Kurz: Man darf sich in steter Verwunderung freuen, wie viel Kraft, wie viel Anstoß zu nachdenklicher Kritik dieser Aufführung entströmt.
 
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31. Juli 1999, ARGUS
 
Nach Moskau!
 
Das "Deutsche Theater Almaty" in Basel
von Siegbert Kopp

 

Spät, aber nicht zu spät, ist Basel aufs internationale Festival-Karussel aufgesprungen. Seit 1991 findet in der Stadt am Rheinknie das nach Zürich zweitgrösste Theaterfestival der Deutschschweiz statt. Während das Zürcher "Theaterspektakel" in diesem Jahr seinen zwanzigsten Geburtstag feiern kann, treffen sich in Basel nur alle zwei, drei Jahre internationale Truppen auf dem Kasernenareal der Kulturwerkstatt. Immer wieder muß alles neu aus dem Boden gestampft werden, vor allem das Budget, dieses durch Lotteriefonds und Stiftungsgelder finanzierten Theatertreffens.
 
Kein Wunder, daß Christoph Stratenwerth, der Mitinitiator und diesjährige künstlerische Leiter des Festivals, ein Herz für jene Truppen hat, denen es auch nicht besser geht, die aus der Not die Tugend der Improvisation machen. Große Effekte mit geringen Mittel, Spontaneität, Jugendfrische und Lebensmut: Damit überzeugten auch die acht jungen Schauspielabsolventen vom Deutschen Theater Almaty aus Kasachstan, der ehemaligen Sowjetrepublik.
 
"Glücksfelder" heißt ihre Show nach einer beliebten russischen TV-Unterhaltungssendung - doch in dieser Collage aus Schauspiel, Tanz und Gesang (Text und Regie: Ingrid Lausund) ist der Tod Regisseur, Spielmacher und Animateur. Ein junges Ensemble, das bravourös mit den Mitteln der westlichen Unterhaltungsindustrie spielt, um deren Mechanismen zu unterlaufen, indem die sieben jungen Frauen erzählen, worauf es in ihrem Leben wirklich ankommt: auf den täglichen Existenzkampf, den mühseligen Anschluß an die Versprechungen des vermeintlich Goldenen Westens zu finden. Nach "New York, New York" lockt der Sinatra-Song aus dem Lautsprecher. Die Trinkerin, die Tänzerin, die Russlanddeutsche, Fräulein Flatterhaft, die Rotarmistin, die Dollarbraut und die tiefe Russische Seele höchstpersönlich lassen sich zu einer Chorus-Line wie im Musical hinreißen, aber ihre Bewegungen sind noch komisch-holprig, erdenschwer, eher ein Bauerntanz. Noch schwirrt eine andere Verheissung in ihren Köpfen, jene von Tschechows "Drei Schwester", nach Moskau, nach Moskau! Zu Coco Chanel oder zu Tschaikowskys "Schwanensee", zu Mercedes oder zu Mamutschka? Mit viel Selbstironie aber auch Melancholie tanzt und spielt diese Truppe aus Kasachstan ihre Zerrissenheit zwischen zwei Kulturwelten.
 
Bei der ersten Ausgabe der Basler Festivals 1991 gastierten Theater aus der UdSSR just zu jenem Zeitpunkt als das Sowjetreich zusammenbrach. Als Sowjetbürger waren sie gekommen, in was für ein Land, in welche politische Landschaft sie nach dem Militärputsch in Moskau zurückkehren würden, wußten sie damals nicht.
 
Inzwischen hat sich die politische Landkarte neu geordnet, aber die Lebensverhältnisse sind im postkommunistischen Alltag unüberschaubarer geworden, wie das Deutsche Theater Almaty vorspielt und vortanzt. Die Dusche im Volksbad funktioniert immer noch nicht: Unterm zerfetzten Regenschirm legen zwei Frauen einen wunderbar witzigen Slapstik beim Kampf um den letzten Tropfen Wasser auf die Bretter. Bananen gibt es zu kaufen, soll man die Schale gleich mitessen? Probleme gibt's zuhauf, aber soll man sie nicht lieber erst morgen angehen? Das Leben könnte ein toller Konsumrausch sein, hätte man nur das nötige Kleingeld - und wäre es nicht hier der Tod mit Tutu und Generalsmütze, der die Mädels charmant, verführerisch und gleichzeitig aasig-grienend in den besinnungslosen Taumel treibt. Lieblingssujet von Gevatter Tod ist der "Sterbende Schwan", aber da gehen die Lichter aus. Das russische Kabel will in die Schweizer Steckdose nicht passen: "Russisch-Schweizer Wackelkontakt", kommentiert der Tod die (gespielte) Panne. - Viel Applaus.

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August 1999, Festival-Zeitung, Basel
 
von Leo Gschwind
Christoph Schäfer

Schmerz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung
Das Deutsche Theater aus Almaty gibt ein Gastspiel im Theater am Ufer
 
Wie öffnen Sie eine verschlossene Tür in Kasachstan? - Die Lösung: ein Wort mit sieben Buchstaben. "Drücken" meint jemand zögerlich in den Raum hinein. "Dollars" erwidert der Schauspieler mit breitem Grinsen. Und davon wird geträumt an diesem Abend: Dollars, Nylonstrümpfe, Parfüm oder Berufe wie Stewardeß.
 
Die jungen Schauspieler der Theatergruppe Almaty aus Kasachstan rekonstruieren mit großer Lebendigkeit ihr Leben fern von westlichen Luxus, ohne je in die Opferrolle zu fallen. Denn an Ironie und Witz fehlt es ihnen nie. Ob es darum geht, mitten im Theaterabend einen Stromausfall zu inszenieren, und dann lakonisch zu erklären, daß die russischen Kabel halt nicht auf Schweizerkabel passen. Oder wenn sie genüßlich das (westliche) Vorurteil zelebrieren: "Leute aus dem Osten wissen nicht einmal, wie man Bananen ißt" - zu lachen gab es immer was. "Glücksfelder" - ein Stück voll menschlicher Wärme, eine Inszenierung mitten aus dem Leben gerissen. Die Zuschauer werden gefordert. Kalt lässt es keinen. Nur schon darum ein Gewinn für das Theater Festival Basel.

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30. August 1999, Bz
Von Verena Stössinger

Vom Armut, Reichtum, Tod und Träumen
 
"Glücksfelder" vom Deutschen Theater Almaty in der Klingentalhalle.
 
Was macht ein Leben lebenswert? Was ist daran Alltag, Tradition, Schicksal und wovon läßt sich träumen? Was verändern? Das Ensemble der Schauspielschulabsolventen aus Kasachstan macht aus solch gewichtigen Fragen eine engagierte, bitter-süsse Revue (Stück und Regie: Ingrid Lausund).
Basel. Was wissen wir von Kasachstan? Von der Stadt Almaty (Alma-Ata), 6000 Kilometer weit weg im Osten, wo es eine große deutschstämmige Gemeinde gibt, die sogar ein eigenes Theater unterhält? Was müssen wir davon wissen, um der Produktion der deutschsprechenden Schauspielschulabsolventen aus Almaty, die im Rahmen das Theater Festivals Basel in der Klingentalhalle gastierte, gerecht zu werden? Um zu ermessen, wie (ge)wichtig sie ist?
Solche Fragen verblassen je länger der kurzweilige Abend dauert, immer mehr. Und auch der für das Spiel gesetzte Bedeutungsrahmen verblaßt diese existenzialistische (und inzwischen eher strapazierte) Theater - Spielkonstruktion: Da tritt ein leicht verrucht kostümierter Conférencier auf mit einem Buch in der Hand, stellt sich uns vor als der Tod persönlich und holt aus dem Buch nach und nach Szenen aus den Lebensgeschichten der sieben Frauen, die im Bühnenhintergrund verunsichert unter Schirmskeletten sitzen, an's Licht. Und die Frauen spielen, singen, tanzen dann , als könnten sie dadurch und neues Leben gewinnen - der Titel des Abends, "Glücksfelder", sei auch der Titel einer sehr populären russischen Fernsehshow.
 
West-Ost-Gefälle.
Es bleiben scharfe, leicht ins Groteske getriebene Lebensgeschichten-Nummern. Sie erzählen meist vom großen Kampf mit dem kleinen Alltag, der vorwiegend grau ist, ärmlich und zukunftslos. Die Tänzerin, die statt des sterbenden Schwans nur eine "sterbende Ente" sein darf; die Alte, der zum ersten Mal eine Banane in die Kartoffelschälhände gerät und die nicht weiß, was daran wie zu essen wäre; die Verschuldete, die ihren Mercedes aufißt, damit er nicht gepfändet wird. Häufig ist von Haben und Nichthaben die Rede, und der Gegensatz Ost-West (arm-reich, hier-woanders) wird zum Grundakkord. Die Marktfrau träumt sich mit ihrer Trommel nach Afrika, eine will Stewardess werden, weil es im Flugzeug so gut riecht, eine andere bloß etwas haben "was mir gehört"; und die Märchenerzählerin wird von der aufdringlichen Amerikanerin, die die armen Russen so sehr bedauert (die fehlenden Swimmingpools! Der böse Stalin!), mit Kaugummi der Mund zugestopft. Die Not wird deutlich, ist nicht nur eine wirtschaftliche, ist immer auch politische; die Parteisekretärin träumt von Solidarität und Demokratisierung, und der Diva, der nach dem Unfall Beine und Arme amputiert und an deren Stelle neue Glieder verpaßt worden sind, entgleitet der Körper: das russische Bein, der deutsche Arm gehorchen ihr nicht länger (es ist eine der eindringlichsten und auch handwerklich besten Szenen)
 
Spontaneität, Improvisation
Spontan und lebhaft kommen aber alle Szenen über die Rampe, und daß dabei auch improvisiert wird, zeigen nicht zuletzt die vielen Anspielungen auf Basel und auf die Schweiz, die der Conférencier leicht und geschickt einflicht. Nur einmal kam er an Premierenabend ein wenig aus dem Konzept: Als er das Publikum fragte, wie die selben Frauen (die Menschen in Almaty) ihr Leben denn ins Bessere verändern können, und ein Zuschauer riet: "Kommen Sie nach Basel" (Wenn das Frau Metzler gehört hätte) Die Truppe spielt selbstbewußt auf - in München ist ihre Produktion im Rahmen eines internationalen Schauspielschul-Treffens ausgezeichnet worden und geht doch keiner Selbstironie aus dem Weg. Die hebt das etwas Hölzerne auf, das durch die barsche Diktion entsteht (und aufgehoben ist, wenn die Darsteller russisch sprechen oder singen) - und es macht auch das Appelativ-Zuversichtliche des Schlussbildes glaubhaft. Da nehmen die sieben Frauen nämlich dem Tod das Buch aus der Hand und beginnen, ihr Leben selbst weiter zu schreiben. Gemeinsam, fröhlich und konkret.

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